JAPAN DAS GROSSE DORF

Chinaschule, Nationalgeschichte
und die moderne japanische
Kulturanthropologie

Notizen zur Geschichte
des japanischen Geschichtsbewusstseins

von Nold Egenter


Dieser Radiozyklus wurde vor rund 20 Jahren geschrieben. Vieles hat sich seither in der Welt verändert. Japan hat seine damalige ökonomische Vorrangstellung in Asien und der Welt weitgehend zurückstellen müssen. Entsprechend ist auch im Westen das Interesse an Japan zurückgegangen. Dennoch hat der Bericht seinen Wert nicht verloren, denn er zeigt etwas auf, das jenseits der kurzfristigen Sensationen liegt: die Relativität von Kulturbildern in Abhängigkeit von bestimmten Methoden der  Darstellung. Chinaschule vorerst, das heisst, Japan unter dem Einfluss der älteren Kultur Chinas. Es entsteht ein bestimmtes Bild in dem bestimmte, vom kontinentalen Festland her eingeführte Kriterien dominieren. Weiter, die Japanschule. Sie bedeutet die Besinnung auf eigene Werte und die Interpretation der japanischen Kultur vornehmlich von ihren eigenen historischen Quellen her. Und auch dies prägt bestimmte Vorstellungen von klturellen Schwerpunkten. Und schliesslich zum dritten Bild, Japan im Spiegel der modernen Kulturanthropologie. Dieses Bild steht stark unter dem Einfluss europäisch-westlichen Denkens.

Drei verschiedene Methoden, die verschiedene Bilder entwerfen. Jeder der mit solchen Methoden und ihren Wirkungen vertraut ist, wird erkennen, dass der vorliegende Bericht nicht nur auf Japan zugeschnitten ist. Praktisch jede Kultur lässt sich in ähnlichen Bezügen abbilden. Das wichtigste an dieser Arbeit liegt jedoch daran, dass sich am Beispiel Japans mit der kulturanthropologischen Methode  überraschende neue Einsichten ergeben: Es zeichnet sich eine recht einleuchtender Übergang ab zwischen den vorgeschichtlichen Ländern (kuni) mit ihren  territorial-politischen Kultstrukturen und der frühgeschichtlichen Reichsbildung in Zentraljapan.  Diese althergebrachten Kultstrukturen hat man vorerst zentralistisch durch rigide Einführung des Buddhismus  ausser Kraft zu setzen versucht. Doch später spielten sie wieder eine wichtige Rolle als die Macht sich von den provinziellen Randzonen her neu aufbaute. Das für jeden Europäer Paradoxe liegt vor allem darin, dass diese vorgeschichtlichen Kultstrukturen in den japanischen Agrardörfern als sterotype Tradition noch weitgehend intakt und zugänglich sind.

Der Autor gehört zu jener Generation, die in den ausgehenden 60er und Anfangs 70er Jahre die herkömmlich stark philologisch-historisch strukturierten Japanstudien dadurch erweiterte, dass man anfing die Dorfkulturen des Hinterlandes ethnographisch in die Forschung  mit einzubeziehen. In diesem Zusammehang begann man  sich auch mit noch lebendigen Shinto-Traditionen der japanischen Agrargesellschaft zu beschäftigen, um von dort her neue Einsichten über die Bedeutung dieser offensichtlich autochthonen Strukturen zu erhalten. Der folgende Text versteht sich - in enger Anlehnung an die geschichtlichen Arbeiten von Hall - als japanologisch-theoretischer Rahmen zur ethnographischen Untersuchung der jährlichen uji-gami Kulte an 100 Dörfern Zentraljapans (siehe die reich illustrierte Dokumentation; Egenter 1980 [deutsch], 1995 [englisch]).

Die hier vorgelegte kulturanthropologische Interpretation der japanischen Kultur versteht sich zugleich als Modell für die Kulturanthropologie allgemein. Sie fordert das kritische Überdenken der problematischen Aspekte der historischen Methode im engeren Sinne und das Anvisieren neuer ethno-prä-historischer, oder strukturgeschichtlich systematischer Methoden die sich von den  funktional spekulativen, datierten Fund/Quellenserien zu lösen vermögen und die Betonung vermehrt auf die Rekonstruktion relevanter Prozesse legt (s. Ogburn und Wernhart in den Arbeiten des Autors).
 



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