Wir reden von der fünften Konferenz der Internationalen Vereinigung für die Erforschung traditioneller Umwelten (IASTE) an der Architekturabteilung der 'University of California' in Berkeley. Wie die früheren bot auch die kürzlich durchgeführte fünfte Konferenz eine Fülle von Berichten über Architekturtraditionen aus allen Enden der Welt. Damit gehört dieses nun auf ein zehnjähriges Bestehen zurückblickende Forschen und Präsentieren von Untersuchungen immer noch - was die Weite des architekturtheoretischen Horizonts angeht - zweifellos zum Bereicherndsten des im kognitiven Gebiet der Architektur Gebotenen. Gratulation!
Ueber 150 Papers wurden in 4 Tagen vorgelesen (1). Fast alle Kontinente waren thematisch und bezüglich Autoren vertreten. Eine globale Konferenz über Architektur, wohl immer noch ein recht einmaliges Ereignis! Man vergleiche etwa mit dem aufgeblähten Unsinn der UIA-Konferenz in 'Barcelona' 1996: 'Starkult'! Mit ungeheurem Aufwand (12'000 Besucher, 500 US$ Eintrittsgebühr!) Aber: Objektive Kommunikation minimal. Wissensvermehrung: praktisch Null! Auch aus dieser vergleichenden Sicht: Gratulation für die 5. IASTE Konferenz!
Chao Ching Fu beschrieb in eindrücklichen Lichtbildern wie sich ältere Frauen Taiwans bei Tempeln vor der Macht des Himmels noch ehrfürchtig zu Boden warfen. Wie dann aber die Tempel mit dem "Niedergang der Religion" ihre Bedeutung verloren, bildete sich auch eine Flut von gesichtslosen Bauten, die die städtischen Teile der Insel chaotisch überschwemmte. Indem Fu allerdings die chinesische Tradition westlich modern als Religion verstand, verbaute er sich die Einsicht in die tiefere Ursache des Auflösungsprozesses. Das analytische Trauma des Westens, die platonistische Absolution des Himmels (Religion) und ihre Negation in der Wissenschaft (Beschränkung auf die empirische Welt), war auf der spirituellen wie materiellen Ebene auf Taiwan eingedrungen, hatte das ursprünglich relationale Gefüge des harmonisch angelegten chinesischen Yin UND Yang aufgelöst. Zeitgeist in action: Tempel sterben, Materie wuchert. Ein wichtiger Vortrag.
Ähnlich zeigte Puay-Peng Ho wie vorerst die Engländer, dann die lokale Regierung die im Fengshui althergebrachte Philosophie der relationalen Landschaftsgestaltung missachteten, indem sie auf einem lokal natürlich bewerteten Waldhügel mit Ahnengräbern über dem harmonisch zugeordneten Dorf eine Polizeistation errichteten. Der Beitrag zeigte klar, wie ein modern physikalisch begründetes Raumkonzept ein traditionell im humanen Bereich gewachsenes, komplementär und harmonisch angelegtes Raumgefüge verletzt, weil dieses mit der lokal höchstwertigen Ontologie aufs engste verbunden ist. Die Bewohner sind vehement herausgefordert.
Eine interessante Studie (Andre Casault, David Covo) widmete sich der Verdichtung alter Hofhäuser im Kern Beijings unter dem kommunistischen System. Zahlreiche Familien hatten sich mit allerlei Hausbasteleien und wuchernden Pflanzen in den altehrwürdigen Axen eingenistet. Der von den westlichen Architekten vorgeschlagene Umbau war zwar westlich 'clean' aber bezüglich kultureller Anpassung nicht überzeugend.
Dana Buntrock und Mira Locher gaben einen guten Abriss der Ablösungsprozesse in Japan von der in 200-jährigem Abschluss gehegten Tradition und dem Durchbruch zur Industrialisierung. Ihr Vortrag zeigte wie das geschaffene Spannungsfeld zwischen Tradition und Entwicklung sich in Architektur und Planung, aber auch in der Literatur, oder im Verhältnis zur Volkskunst niederschlug.
Nobuo Mitsuhashi und Nobuyoshi Fujimoto präsentierten ihre Untersuchung von "minshuku" (Ferien-Unterkunft in privaten Häusern) im Bergdorf Kuriyama und zeigten, wie die Bauern diese Familienpensionen durch aktive Partizipation der Besucher an lokalen Volksfesten attraktiver gestalteten.
Endang Titi Sunarti Darjosanjoto und Frank E. Brown beschrieben traditionelle Häuser in der Küstenregion Surabayas (Java, Indonesien) und ihre modernen Derivate aus dem Blickwinkel der Grundrissvariationen. Auch in den modernen Typen erhielt sich weitgehend die in der lokalen Tradition dominante, lineare Tiefenstaffelung der Raumsequenz: offene Verandah gegen die Strasse und intimste Räume davon weg, auf der zur Strasse weitest abgelegenen Seite des Hauses. Das Beispiel zeigt, dass der Wohnplan in traditionellen Häusern stark konservative Eigenkräfte besitzt, die von den lokalen Entwerfern offenbar respektiert werden.
Mas Santosa lieferte ein eher negatives Beispiel. Sein Vortrag zeigte sechs verschiedene Haustraditionen Indonesiens (Aceh, Bugi, Central Java, Toradja, Bali, Sumba). Die Häuser und insbesondere die reichen Dachformen wurden lediglich vom Aspekt der Wärmespeicherung, resp. -reflexion her quantitativ betrachtet. Die Grundrisse wurden alle als "höchst einfach" eingestuft. Die ausgezeichneten Computergraphiken konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich in dieser Darstellung um eine extrem reduktionistische technologische Rückprojektion handelt, die den kulturellen Hintergrund dieser wunderbaren Haustraditionen sträflich vernachlässigt. Bekommen Architekturstudenten solche höchst reduktionistische Bücher in die Hand, machen sie sich schnell vor, sie wüssten nun was es mit solchen Dächern auf sich hat. Kurz, Santosas Beitrag ist für das kulturelle Verständnis von Architektur höchst ungeeignet und möglicherweise verheerend in der Auswirkung.
Schliesslich zum inspirierenden Bericht eines Architekten (William Semple) über seine Entwurfs-Tätigkeit auf dem 'Dach der Welt', in Tibet. Wunderbare Lichtbilder begleiteten seine mit Intensität geschilderten Versuche, sich in die tibetische Architekturtradition einzufühlen, was - mit seinen präsentierten Arbeiten - offensichtlich auch gelungen ist. Seine Haltung steht für eine neue Dimension in der Architektur, die anderen Kulturen nicht ihre reduktionistischen Rationalismen aufzwingt, sondern sich an die fremdkulturlichen Verhältnisse anpasst und aus diesen selbst die Entwürfe zu entwickeln sucht. Diese Art von 'hermeneutischer Design' könnte vor allem im interkulturellen Austausch von Architektur mit der sog. dritten Welt dazu beitragen, den gegenwärtigen 'Architektur-Kolonialismus' zu relativieren.
Ebenfalls an den Igbo beschrieb Emmanuel I. Ede den (Werte-)Wandel von einer materiell autonomen traditionellen Architektur zu einer zunehmenden Abhängigkeit von industriellen Elementen und Formen. Die christliche Bekehrung spielt eine wichtige Rolle in dieser systematischen Umweltverarmung.
Nenad Lipovac rekonstruierte die Entwicklung der kroatischen Stadt Petrinja anhand alter Stadtpläne. Sehr schöne traditionelle Haustypen aus Holz wurden in neuerer Zeit radikal verdrängt durch mitteleuropäische Eigenheimvorstellungen (Backstein, verputzt, Typen meist vermittelt durch Arbeitswanderungen, e.g. nach Deutschland; in der Folge auch: Ablehnung der eigenen Holzbautradition). Die Präsentation vermittelte an einem interessanten Beispiel wichtige Einblicke in die geistigen und materiellen Kräfte zwischen Kontinuität und Wandel.
Amos Rapoport stellte in seiner betont trockenen Art drei Fragen, um die Stärken und Schwächen der 10 jährigen IASTE Bemühungen zu ermessen: Was? Warum? und Wie? untersucht die IASTE eigentlich? Sachlich sei das Material, das sich in 10 Jahren des Forschens, Sammelns, Publizierens angehäuft habe durchaus positiv. Auch die Begründung und das Ziel seien nach wie vor positiv vertretbar, nämlich zwecks Entwurf, Planung und Entwicklung traditionelle Wohn- und Siedlungsforschung einzubeziehen. Die Frage nach dem 'Wie?' falle jedoch weniger erfolgreich aus. Es fehlte methodologisch weithin noch an Integration, Koordination, Synthese und Theorien-Entwicklung. Gelänge es vermehrt, die Forschungsmethoden zu verbessern, so könnte sich sowohl das Gebiet wie entsprechende Theorien rascher entwickeln. Da dies sich wiederum auf die Lern-Intensität auswirkte, böten sich auch vermehrt Möglichkeiten, die Entwurfs-, Planungs- und Entwicklungstheorien zu beeinflussen und zu verbessern.
Anthony King stellte eher provozierende Fragen nach der politischen Einordnung der IASTE-Forschungsbemühungen. Ob in der betont geographisch (weltweit) gestreuten Thematik nicht ein Neo-Kolonialismus anklinge, in welchem die Vereinigten Staaten ihre kulturelle Hegemonie in der nicht westlichen Welt aufrecht zu erhalten suchten? Oder, im Gegenteil, entspräche vielleicht die IASTE-Sache dem Wunsch verhinderter Sozialisten sich der Ausdehnung der Marktkräfte in den noch nicht berührten Teilen der Welt entgegenzustemmen? Oder, wiederum anders, handelt es sich vielleicht um einen politisch rechtsflügeligen Versuch 'traditionelle Umwelten' zu bewahren, damit der Welt-Tourismus mehr und mehr davon profitieren könne? "Wer führt die Agenda für die Studien 'traditioneller environments' und welches sind die Gründe? Wo steht die Politik in dieser Studienrichtung? Ich glaube es ist an der Zeit, diese Fragen zu stellen"!
Es ist klar, King versuchte den 'advocatus diaboli' zu spielen, die gegensätzlichen Einordnungen verraten dies deutlich. Das 'freie Spiel der Marktkräfte' ist wohl - für den graduellen Aufbau einer 'Architekturwissenschaft' sicher nicht der geeignete Masstab - besonders seit der renommierte französische Soziologe Pierre Bourdieu es in die Nähe religiöser Bewegungen gerückt hat. Auch die anderen Vergleiche sind nicht stichhaltig. Sie gehen am Hauptpunkt dieser Konferenz vorbei.
Aus dieser Sicht müsste man dann auch Verständnis dafür aufbringen, dass zehn Jahre für den Aufbau einer globalen 'Architektur-Ethnologie' eine sehr kurze Zeit sind. Wie lange hat es gebraucht, bis die volkskundliche Hausforschung in Europa wissenschaftlich ernst genommen wurde? Dabei war das Material kulturell sehr homogen. Ueber 100 Jahre hat es gebraucht, um heute selbstverständliche Fächer, wie etwa die Sinologie, die Japanologie als wissenschaftliche Disziplinen aufzubauen. Sie haben alle mit höchst einfachem und reichlich verzettletem Inventar - grösstenteils mit individuellen Reisebeschreibungen und Beobachtungen - angefangen. Man könnte also - gegen die kritischen Stimmen - auch sagen, es wäre doch, so gesehen, recht voreilig anzunehmen, dass in nur 10 Jahren ein neuer Forschungszweig bereits fixfertig als ausgewachsene Wissenschaft mit vollgültigen Ergebnissen aufwarten könnte. Was in dieser Zeit geleistet wurde ist ja doch eigentlich beachtlich. Berkeley ist es gelungen, einem weltweiten Interesse der Erforschung traditioneller Bau- und Siedlungsweisen Bedeutung zu geben. Viele hindernde Umstände stehen einer Perfektion noch entgegen. Architektur hat (noch) keine wissenschaftlichen Grundlagen. Ausgebildete Architekten und Planer, die sich für die Forschung entscheiden, müssen sich Kompetenz in wissenschaftlicher Praxis selbst aneignen. Erst langsam und zögernd sind Ausbildungsfächer in wissenschaftlicher Methodik an Architekturschulen gefordert (Oslo, z. B.). Wie gesagt, heute etablierte Studienfächer, wie etwa Japanologie oder Sinologie, oder auch Archäologie und andere Spezialfächer der Humanforschung haben sich alle über lange Zeit - aus recht heterogenen Materialen - allmählich strukturiert und systematisiert. Aus dieser Sicht wurde manches in den erwähnten kritischen Positionen der Sache nicht gerecht. Das heisst aber nicht, dass man Kritisches verschweigt. Solches wird im folgenden mehr in methodologischen Details veranschlagt.
Zum Andern aber wird hier die Ueberzeugung vertreten, dass Architekturforschung ein ungeheures Potential in sich trägt: nicht nur für die Architektur und ihr Wissen (was sich auch auf die Praxis auswirkt), sondern auch für die Humanforschung. Architektur ist - objektiv - auf unseren Weltkarten weithin noch ein weisser Fleck. Andersrum ist es durchaus denkbar, dass Architekturforscher zu den führenden Humanforschern des 21. Jahrhunderts gehören werden. Jedenfalls sei Architekturstudierenden geraten - falls sie ohnehin bereits eine Neigung verspüren, sich die Option 'Architekturforschung' offenzuhalten - schon für den Fall einer zweiten, bereits absehbaren Architekturkrise. Die Gesellschaft wird dann offener und mit mehr Nachdruck nach der Erforschung ihrer behausten Lebensbedingungen fragen. (2)
(2) Konkreter zwei Vorschläge: 1. Als längerfristiges Ziel könnte die IASTE Vereinigung den Aufbau einer dezidiert wissenschaftlichen Architekturforschung veranschlagen. Es wäre zu eruieren, was man von einem Wissen dieser Art erwarten kann, wie es aufzubauen und zu fördern wäre. 2. Die einmal eingschlagene Linie impliziert zunehmende Diskussion wissenschaftlicher Methoden und wie sie in der 'postmythischen' Zeit der Architektur in der Architekturforschung anzuwenden seien.