AUF DEM WEG ZUR ARCHITEKTURWISSENSCHAFT

Einige Bemerkungen zur fünften IASTE-Konferenz 14. - 17. Dec. 1996

Architectural Department University of California, at Berkeley

(IASTE = Internationale Vereinigung für die Erforschung traditioneller Umwelten)

Von Nold Egenter


EINFÜHRUNG

Wider alle kritischen Einwände - vorerst - möge, rein sachlich, festgehalten sein: Im Vergleich zum ewig Wiedergekäuten in den kunsthistorischen Architekturtheorien weht hier immer noch der faszinierende Duft der weiten Welt. Auch wissenschaftlich - allem zum Trotz - bereichernd! Wo dort - in den herkömmlich-ästhetischen 'Architekturtheorien' - immer noch das reduktionistisch-ästhetisch-subjektivistisch-spitzfindige Auswalzen von minimal-Faktischem geleiert wird, überwiegt hier das immer wieder wunderbar Neue. Objektiv Darstellbares wird gezeigt und diskutiert: die Welt ist - rein sachlich - noch nicht ausgeforscht!

Wir reden von der fünften Konferenz der Internationalen Vereinigung für die Erforschung traditioneller Umwelten (IASTE) an der Architekturabteilung der 'University of California' in Berkeley. Wie die früheren bot auch die kürzlich durchgeführte fünfte Konferenz eine Fülle von Berichten über Architekturtraditionen aus allen Enden der Welt. Damit gehört dieses nun auf ein zehnjähriges Bestehen zurückblickende Forschen und Präsentieren von Untersuchungen immer noch - was die Weite des architekturtheoretischen Horizonts angeht - zweifellos zum Bereicherndsten des im kognitiven Gebiet der Architektur Gebotenen. Gratulation!

Ueber 150 Papers wurden in 4 Tagen vorgelesen (1). Fast alle Kontinente waren thematisch und bezüglich Autoren vertreten. Eine globale Konferenz über Architektur, wohl immer noch ein recht einmaliges Ereignis! Man vergleiche etwa mit dem aufgeblähten Unsinn der UIA-Konferenz in 'Barcelona' 1996: 'Starkult'! Mit ungeheurem Aufwand (12'000 Besucher, 500 US$ Eintrittsgebühr!) Aber: Objektive Kommunikation minimal. Wissensvermehrung: praktisch Null! Auch aus dieser vergleichenden Sicht: Gratulation für die 5. IASTE Konferenz!

EINE KURZE UEBERSICHT

Der Haupttitel "Identity, Tradition, and the Built Envrionment: the Role of Culture in Planning and Development" stellte das statisch-identitätsbildende der 'Tradition' der Motorik von 'Planung und Entwicklung' gegenüber. In der Mitte das objektive Spannungsfeld von baulicher Umwelt und Kultur. Die Untertitel - durchaus abgewogen - spezifizierten thematische Felder im abgesteckten grossen Kreis. Die meisten suchten über stehende Begriffsreihen wie etwa "Grenzen - Ort - Tradition - gebaute Umwelt" Schwerpunkte zu setzen. Es ergab sich ein breites Spektrum von Möglichkeiten, was ja immer zu einer - möglichst offenen - Konferenz gehört. Nicht alles liess sich anhören, eine kleine Auswahl im Folgenden, die die Vielfalt andeutet, möge genügen. Am interessantesten waren die Beiträge zu Asien, weil sie meist auch Weltsichten tangierten. Sie seien deshalb hier vorangestellt.

Asien

Tara M. Cahn berichtete aus dem pakistanisch-nepalesischen Himalayafussgebiet über die bestehenden Kulturen und über drei neue Bau-Projekte, die, in enger interkultureller Zusammenarbeit entstehen sollen oder entstanden. Die vorgeführten Bilder konnten nicht überzeugen. Sie importieren paradoxerweise weitgehend die Armut der rationalistisch-westlichen "Aesthetik" in diese Kulturen. Bürden diese sich - neben ihrer oekonomischen - auch noch diese auf, bleibt ihnen gar nichts mehr. Es ist für westliches Denken offenbar ungeheuer schwer die scholastisch eingepaukte idealistische Einstellung umzukehren und zu begreifen, dass all die wunderbar farbigen Ausdrucksformen dieser Architektur-, Kunst- und Ritual-Welt sich nicht einfach unter dem westlichen Konzept 'Religion' von oben herab - und damit grundsätzlich austauschbar - einordnen lassen. Sie sind vielmehr Zeugen, zugleich auch präsente Modelle einer vergangenen, nicht abgewerteten, sondern lokal bewährten Lebensform.

Chao Ching Fu beschrieb in eindrücklichen Lichtbildern wie sich ältere Frauen Taiwans bei Tempeln vor der Macht des Himmels noch ehrfürchtig zu Boden warfen. Wie dann aber die Tempel mit dem "Niedergang der Religion" ihre Bedeutung verloren, bildete sich auch eine Flut von gesichtslosen Bauten, die die städtischen Teile der Insel chaotisch überschwemmte. Indem Fu allerdings die chinesische Tradition westlich modern als Religion verstand, verbaute er sich die Einsicht in die tiefere Ursache des Auflösungsprozesses. Das analytische Trauma des Westens, die platonistische Absolution des Himmels (Religion) und ihre Negation in der Wissenschaft (Beschränkung auf die empirische Welt), war auf der spirituellen wie materiellen Ebene auf Taiwan eingedrungen, hatte das ursprünglich relationale Gefüge des harmonisch angelegten chinesischen Yin UND Yang aufgelöst. Zeitgeist in action: Tempel sterben, Materie wuchert. Ein wichtiger Vortrag.

Ähnlich zeigte Puay-Peng Ho wie vorerst die Engländer, dann die lokale Regierung die im Fengshui althergebrachte Philosophie der relationalen Landschaftsgestaltung missachteten, indem sie auf einem lokal natürlich bewerteten Waldhügel mit Ahnengräbern über dem harmonisch zugeordneten Dorf eine Polizeistation errichteten. Der Beitrag zeigte klar, wie ein modern physikalisch begründetes Raumkonzept ein traditionell im humanen Bereich gewachsenes, komplementär und harmonisch angelegtes Raumgefüge verletzt, weil dieses mit der lokal höchstwertigen Ontologie aufs engste verbunden ist. Die Bewohner sind vehement herausgefordert.

Eine interessante Studie (Andre Casault, David Covo) widmete sich der Verdichtung alter Hofhäuser im Kern Beijings unter dem kommunistischen System. Zahlreiche Familien hatten sich mit allerlei Hausbasteleien und wuchernden Pflanzen in den altehrwürdigen Axen eingenistet. Der von den westlichen Architekten vorgeschlagene Umbau war zwar westlich 'clean' aber bezüglich kultureller Anpassung nicht überzeugend.

Dana Buntrock und Mira Locher gaben einen guten Abriss der Ablösungsprozesse in Japan von der in 200-jährigem Abschluss gehegten Tradition und dem Durchbruch zur Industrialisierung. Ihr Vortrag zeigte wie das geschaffene Spannungsfeld zwischen Tradition und Entwicklung sich in Architektur und Planung, aber auch in der Literatur, oder im Verhältnis zur Volkskunst niederschlug.

Nobuo Mitsuhashi und Nobuyoshi Fujimoto präsentierten ihre Untersuchung von "minshuku" (Ferien-Unterkunft in privaten Häusern) im Bergdorf Kuriyama und zeigten, wie die Bauern diese Familienpensionen durch aktive Partizipation der Besucher an lokalen Volksfesten attraktiver gestalteten.

Endang Titi Sunarti Darjosanjoto und Frank E. Brown beschrieben traditionelle Häuser in der Küstenregion Surabayas (Java, Indonesien) und ihre modernen Derivate aus dem Blickwinkel der Grundrissvariationen. Auch in den modernen Typen erhielt sich weitgehend die in der lokalen Tradition dominante, lineare Tiefenstaffelung der Raumsequenz: offene Verandah gegen die Strasse und intimste Räume davon weg, auf der zur Strasse weitest abgelegenen Seite des Hauses. Das Beispiel zeigt, dass der Wohnplan in traditionellen Häusern stark konservative Eigenkräfte besitzt, die von den lokalen Entwerfern offenbar respektiert werden.

Mas Santosa lieferte ein eher negatives Beispiel. Sein Vortrag zeigte sechs verschiedene Haustraditionen Indonesiens (Aceh, Bugi, Central Java, Toradja, Bali, Sumba). Die Häuser und insbesondere die reichen Dachformen wurden lediglich vom Aspekt der Wärmespeicherung, resp. -reflexion her quantitativ betrachtet. Die Grundrisse wurden alle als "höchst einfach" eingestuft. Die ausgezeichneten Computergraphiken konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich in dieser Darstellung um eine extrem reduktionistische technologische Rückprojektion handelt, die den kulturellen Hintergrund dieser wunderbaren Haustraditionen sträflich vernachlässigt. Bekommen Architekturstudenten solche höchst reduktionistische Bücher in die Hand, machen sie sich schnell vor, sie wüssten nun was es mit solchen Dächern auf sich hat. Kurz, Santosas Beitrag ist für das kulturelle Verständnis von Architektur höchst ungeeignet und möglicherweise verheerend in der Auswirkung.

Schliesslich zum inspirierenden Bericht eines Architekten (William Semple) über seine Entwurfs-Tätigkeit auf dem 'Dach der Welt', in Tibet. Wunderbare Lichtbilder begleiteten seine mit Intensität geschilderten Versuche, sich in die tibetische Architekturtradition einzufühlen, was - mit seinen präsentierten Arbeiten - offensichtlich auch gelungen ist. Seine Haltung steht für eine neue Dimension in der Architektur, die anderen Kulturen nicht ihre reduktionistischen Rationalismen aufzwingt, sondern sich an die fremdkulturlichen Verhältnisse anpasst und aus diesen selbst die Entwürfe zu entwickeln sucht. Diese Art von 'hermeneutischer Design' könnte vor allem im interkulturellen Austausch von Architektur mit der sog. dritten Welt dazu beitragen, den gegenwärtigen 'Architektur-Kolonialismus' zu relativieren.

Afrika

Georg und Sabine Jell-Bahlsen zeigten, unter dem Titel 'vorchristliche Ritualräume der Oru-Igbo in Südost-Nigeria', wie Territorialkulte bei den Igbo eng mit der Sozialstruktur und der Wohnweise verschmolzen sind.

Ebenfalls an den Igbo beschrieb Emmanuel I. Ede den (Werte-)Wandel von einer materiell autonomen traditionellen Architektur zu einer zunehmenden Abhängigkeit von industriellen Elementen und Formen. Die christliche Bekehrung spielt eine wichtige Rolle in dieser systematischen Umweltverarmung.

Amerika

Nina Veregge beschrieb auf vergleichender Basis von Strukturschemen eindrücklich, wie iberische Stadthaustraditionen mit ihrer kulturell fest verwurzelten Betonung der Kontrolle von Eingangstor und Patio unter der Veränderung oekonomischer Bedingungen starke Transformationen durchmachten.

Europa

Keith Loftin Ill and Jacqueline Victor zeigten am Beispiel eines in den südfranzösischen Alpen idyllisch über einer Schlucht gelegenen Dorfes (Pont en Reoyens) wie dieses sich in einer langen Geschichte entwickelt, dann aber in Anpassung an den modernen Tourismus völlig verändert hat ("Das Auto war destruktiver als die Religionskriege!").

Nenad Lipovac rekonstruierte die Entwicklung der kroatischen Stadt Petrinja anhand alter Stadtpläne. Sehr schöne traditionelle Haustypen aus Holz wurden in neuerer Zeit radikal verdrängt durch mitteleuropäische Eigenheimvorstellungen (Backstein, verputzt, Typen meist vermittelt durch Arbeitswanderungen, e.g. nach Deutschland; in der Folge auch: Ablehnung der eigenen Holzbautradition). Die Präsentation vermittelte an einem interessanten Beispiel wichtige Einblicke in die geistigen und materiellen Kräfte zwischen Kontinuität und Wandel.

EINGELADENE VORTRÄGE

Mehrere Vorträge eingeladener Sprecher gaben generelle Einsichten. In diesem Kontext waren zwei an sich verschieden angelegte Beiträge von Saskia Sassen und Manuel Castells eher enttäuschend. Beide behandelten die zeitgenössische Gesellschaft global mit einem Zweischichtenbild (upper-lower class) und beschrieben Prozesse zwischen dominant-aktiver und passiver Schicht. Sassen tat dies mit dem Titel "Whose City Is It?" wesentlich unter dem Gesichtspunkt "global economy", Castells unter "Third Millenium Urbanization: Megacities and Microsocieties". Beide dramatisierten ihren Ansatz im Hinblick auf neue Kommunikationsformen beträchtlich. Jedoch, die Grundstrukturen, die sie verwendeten, sind in der Ethnologie und Anthropologie unter 'Parallelismus und Diffusion' eine recht alte Geschichte. Machtausübung von Eliten auf lokal gebundene Bevölkerungen gehören überdies zum Grundthema jeder Staatsgeschichte. Wer mit solchen Strukturen aus der Kulturgeschichte vertraut ist, hatte Mühe, die innovative Begeisterung der beiden Autoren für ihre Themen zu teilen.

KRITISCHE STIMMEN

Nicht alle waren mit dem Ergebnis der Konferenz zufrieden. In verschiedener Hinsicht wurde Kritik geübt. In der ersten Plenarsitzung äusserten sich kritisch: Paul Oliver, Amos Rapoport und Anthony King. Ebenso am Schluss vor allem Sanjoy Mazumdar und Nelson Graburn.

Amos Rapoport stellte in seiner betont trockenen Art drei Fragen, um die Stärken und Schwächen der 10 jährigen IASTE Bemühungen zu ermessen: Was? Warum? und Wie? untersucht die IASTE eigentlich? Sachlich sei das Material, das sich in 10 Jahren des Forschens, Sammelns, Publizierens angehäuft habe durchaus positiv. Auch die Begründung und das Ziel seien nach wie vor positiv vertretbar, nämlich zwecks Entwurf, Planung und Entwicklung traditionelle Wohn- und Siedlungsforschung einzubeziehen. Die Frage nach dem 'Wie?' falle jedoch weniger erfolgreich aus. Es fehlte methodologisch weithin noch an Integration, Koordination, Synthese und Theorien-Entwicklung. Gelänge es vermehrt, die Forschungsmethoden zu verbessern, so könnte sich sowohl das Gebiet wie entsprechende Theorien rascher entwickeln. Da dies sich wiederum auf die Lern-Intensität auswirkte, böten sich auch vermehrt Möglichkeiten, die Entwurfs-, Planungs- und Entwicklungstheorien zu beeinflussen und zu verbessern.

Anthony King stellte eher provozierende Fragen nach der politischen Einordnung der IASTE-Forschungsbemühungen. Ob in der betont geographisch (weltweit) gestreuten Thematik nicht ein Neo-Kolonialismus anklinge, in welchem die Vereinigten Staaten ihre kulturelle Hegemonie in der nicht westlichen Welt aufrecht zu erhalten suchten? Oder, im Gegenteil, entspräche vielleicht die IASTE-Sache dem Wunsch verhinderter Sozialisten sich der Ausdehnung der Marktkräfte in den noch nicht berührten Teilen der Welt entgegenzustemmen? Oder, wiederum anders, handelt es sich vielleicht um einen politisch rechtsflügeligen Versuch 'traditionelle Umwelten' zu bewahren, damit der Welt-Tourismus mehr und mehr davon profitieren könne? "Wer führt die Agenda für die Studien 'traditioneller environments' und welches sind die Gründe? Wo steht die Politik in dieser Studienrichtung? Ich glaube es ist an der Zeit, diese Fragen zu stellen"!

Es ist klar, King versuchte den 'advocatus diaboli' zu spielen, die gegensätzlichen Einordnungen verraten dies deutlich. Das 'freie Spiel der Marktkräfte' ist wohl - für den graduellen Aufbau einer 'Architekturwissenschaft' sicher nicht der geeignete Masstab - besonders seit der renommierte französische Soziologe Pierre Bourdieu es in die Nähe religiöser Bewegungen gerückt hat. Auch die anderen Vergleiche sind nicht stichhaltig. Sie gehen am Hauptpunkt dieser Konferenz vorbei.

IASTE KONFERENZEN: AUFBAU EINER ARCHITEKTURWISSENSCHAFT

Architektur-intern sind die IASTE-Konferenzen Knotenpunkte einer wichtigen Entwicklung, nämlich der graduellen Heranbildung einer 'Architekturwissenschaft'. Sie öffneten und öffnen neue Horizonte. Die IASTE Bewegung sprengt die herkömmliche Basis der kunsthistorischen 'Architekturtheorie'. Ihre deklarierte Oeffnung hin zur nicht-schriftlichen Tradition - Architektur-Ethnologie global - ist für die Theorienbildung der Architektur ungeheuerlich wichtig. Das sollte man - auch angesichts einiger Schwachpunkte - nicht vergessen.

Aus dieser Sicht müsste man dann auch Verständnis dafür aufbringen, dass zehn Jahre für den Aufbau einer globalen 'Architektur-Ethnologie' eine sehr kurze Zeit sind. Wie lange hat es gebraucht, bis die volkskundliche Hausforschung in Europa wissenschaftlich ernst genommen wurde? Dabei war das Material kulturell sehr homogen. Ueber 100 Jahre hat es gebraucht, um heute selbstverständliche Fächer, wie etwa die Sinologie, die Japanologie als wissenschaftliche Disziplinen aufzubauen. Sie haben alle mit höchst einfachem und reichlich verzettletem Inventar - grösstenteils mit individuellen Reisebeschreibungen und Beobachtungen - angefangen. Man könnte also - gegen die kritischen Stimmen - auch sagen, es wäre doch, so gesehen, recht voreilig anzunehmen, dass in nur 10 Jahren ein neuer Forschungszweig bereits fixfertig als ausgewachsene Wissenschaft mit vollgültigen Ergebnissen aufwarten könnte. Was in dieser Zeit geleistet wurde ist ja doch eigentlich beachtlich. Berkeley ist es gelungen, einem weltweiten Interesse der Erforschung traditioneller Bau- und Siedlungsweisen Bedeutung zu geben. Viele hindernde Umstände stehen einer Perfektion noch entgegen. Architektur hat (noch) keine wissenschaftlichen Grundlagen. Ausgebildete Architekten und Planer, die sich für die Forschung entscheiden, müssen sich Kompetenz in wissenschaftlicher Praxis selbst aneignen. Erst langsam und zögernd sind Ausbildungsfächer in wissenschaftlicher Methodik an Architekturschulen gefordert (Oslo, z. B.). Wie gesagt, heute etablierte Studienfächer, wie etwa Japanologie oder Sinologie, oder auch Archäologie und andere Spezialfächer der Humanforschung haben sich alle über lange Zeit - aus recht heterogenen Materialen - allmählich strukturiert und systematisiert. Aus dieser Sicht wurde manches in den erwähnten kritischen Positionen der Sache nicht gerecht. Das heisst aber nicht, dass man Kritisches verschweigt. Solches wird im folgenden mehr in methodologischen Details veranschlagt.

KRITISCHE PUNKTE IM EINZELNEN UND POTENTIELLE IASTE-FOREN

Stand der Forschung

Viele Präsentationen sind noch auf der Ebene von elementaren ethnographischen Aufnahmen. Das hat seine Berechtigung dort, wo bis anhin unbekannte Gebiete erschlossen werden, wo man noch kaum etwas kennt, nicht aber dort, wo umfangreiche Untersuchungen bereits bestehen. Nur wenige der vom Autor dieses Berichtes gehörten Vorträge gaben zu erkennen, dass sie den vorliegenden 'Stand der Forschung' in ihrem Gebiet berücksichtigten. Jedes Thema verlangt in diesem Zusammenhang initiales Eingehen auf bestehende Forschungen im betreffenden Gebiet, Darstellung der wichtigsten Methoden, Thesen und Theorien im Sinne einer Abgrenzung des bereits Bestehenden vom Neuen, das der betreffende Autor vorträgt. Das heisst, Architekturabsolventen gehen immer noch von der - heute meist irrigen - Meinung aus, sie könnten mit einem beliebigen Thema (und mit ihrer Photoausrüstung) an einem beliebigen Ort der Welt Aufnahmen machen und diese dann, ohne gebührende Berücksichtigung des bereits zum untersuchten Phänomen Erarbeiteten anderer Autoren - vorerst in Vorträgen - später in gedruckter Form, zu publizieren. Wissenschaftlich heisst das: treten an Ort. Jeder fängt immer wieder von vorne an. Ein enormer Verschleiss! Hier muss das dynamische Prinzip der Wissenschaft Eingang finden. Es lässt sich dies jedoch in die IASTE Praxis leicht einbringen. Es müsste für die folgenden Konferenzen die primäre Forderung nach einem einleitenden Beschrieb des Forschungsstandes im behandelten Gebiet erhoben werden.

Das Problem der Interpretation des objektiv Erforschten

Die fünfte IASTE Konferenz zeigte klar, ein wichtiges Problem besteht im Folgenden. Architekturforschung im Sinne von Architektur-Ethnologie versteht sich (ähnlich wie die Ethnologie selber) als Mikro-Bereich, der im Rahmen der gesamten Humanforschung ein bestimmtes Gebiet behandelt, im übrigen aber die disziplinäre Struktur der Humanforschung übernimmt. D.h. in irgendwelchen kulturgeographischen Zusammenhängen behandelt sie vorerst ihre fachlich definierten Objekte möglichst objektiv, beschreibt und dokumentiert sie. Da architektonische Objekte aber immer auch in komplexen sozialen, religösen, künstlerischen, oekonomischen Zusammenhängen stehen, interpretiert sie ihre objektiven Sachverhalte im Rahmen der bestehenden Disziplinen (Soziologie [oder 'social anthropology'], Religion, Kunst, Oekonomie, usw.) und verfälscht damit möglicherweise Komplexbeziehungen, die in der architektonisch-räumlichen Sache selbst bereits gegeben sind. Hier wohl müsste man eine Forschungsweise fordern, die im Einzelnen immer auch auf das Ganze abstellt und das Ganze mit Bezug zum Einzelnen sieht, etwa im Wechselverhältnis von Architektur-Ethnologie und Architektur-Anthropologie. Auch in diesem Sinne wäre an einer der nächsten Konferenzen ein entsprechendes methodologisch-kritisches Forum denkbar.

Objektive Phänomenologie gegen disziplinäre Reduktionismen

Beeinflusst durch die vorgängigen Punkte wird so das empirisch, oder phänomenologisch Zugängliche und objektiv Beschreibbare unter Umständen extrem reduktionistisch verdrängt. So genügt es oft vorschnell exotische Bauformen von irgendwelchen - meist eurozentrisch vorgefassten - ästhetischen Normen her zu beschreiben, oder auch Tempel und ihre Teilformen von oft recht beliebig gewählten historisch belegten 'Glaubensformen' als Konkretisierung des Geistigen zu deuten. Am Krassesten fällt diese Art des Reduktionismus dort über den kulturellen Inhalt traditioneller baulicher Formen her wo man sie absolut retroprojektiv in den High-Tech Prüfstand übernimmt. So etwa Mas Santosa 's Prüfung der traditionellen Dachformen verschiedener indonesischer Stämme auf Hitzespeicherung. Solche Arbeiten sollte man den Materialprüfungsanstalten oder bauwissenschaftlichen Instituten technischer Hochschulen überlassen. Mit Architekturforschung im kulturellen Bereich haben sie nichts zu tun. Auch dieser Aspekt liesse sich entsprechend diskutieren, etwa unter Titel wie: "Wie beschreibt man ein Haus im kulturellen Kontext?". Es wird sich zeigen, dass hier die wissenschaftlichen Möglichkeiten durchaus noch nicht ausgeschöpft sind. Die Sache liesse sich auch etwa unter dem Titel "Objektive Phänomenologie in der Architekturforschung gegen disziplinäre Reduktionismen" angehen.

Systematisierung der Forschung

Amos Rapoports kritischer Vorschlag, die Forschungen seien vermehrt zu systematisieren, war wohl der wichtigste und positivste der kritischen Einwände. Auf welche objektive Methode der Erfassung sich der forschende Zugang gebauter Environments auch immer stützt ('Human behavior studies', 'Phänomenlologie', 'Ethnologie', 'Anthropologie' etc.), immer werden in traditionellen Architekturlandschaften neben formaler Vielfalt auch relativ konstante Faktoren erkennbar, die sich mehr oder weniger klar von physischen oder empirischen humanen Bedingungen ableiten (Mobilität, Raumperzeption, oekonomischer Stand, materielle und technologische Bedingungen, humane Tradition, Entwicklung usw.). Solche Konstanten wären vermehrt herauszuarbeiten, theoretisch zu prüfen und - im Sinne von Hypothesen - an konkreten Wirklichkeiten zu überprüfen (-> Research Report). Auch für diesen Aspekt könnte man sich ein Forum denken. Vielleicht liesse sich an einer der kommenden IASTE Konferenzen - wie das auch bei anderen Konferenzen die Regel ist - eine Sektion einrichten, die sich - wie oben beschrieben - eruierbaren Konstanten der globalen Architekturtradition widmete.

SCHLÜSSE

Wissenschaft braucht Zeit. Es ist wohl recht unrealistisch von einer Vereinigung herkömmlich ästhetisch ausgebildeter Architekten wissenschaftlich entwickelte Arbeiten zu erwarten. Der Aufbau einer Systematik braucht Zeit. Paul Oliver hat kritisch den Mangel an Interdisziplinarität und interkulturell vergleichender Kapazität betont, der in den Beiträgen zu seiner Encyklopädie zum Ausruck komme. Es ist dies ein untrügerisches Kennzeichen wissenschaftlicher Bemühungen, die noch im Anfangsstadium sind.

Zum Andern aber wird hier die Ueberzeugung vertreten, dass Architekturforschung ein ungeheures Potential in sich trägt: nicht nur für die Architektur und ihr Wissen (was sich auch auf die Praxis auswirkt), sondern auch für die Humanforschung. Architektur ist - objektiv - auf unseren Weltkarten weithin noch ein weisser Fleck. Andersrum ist es durchaus denkbar, dass Architekturforscher zu den führenden Humanforschern des 21. Jahrhunderts gehören werden. Jedenfalls sei Architekturstudierenden geraten - falls sie ohnehin bereits eine Neigung verspüren, sich die Option 'Architekturforschung' offenzuhalten - schon für den Fall einer zweiten, bereits absehbaren Architekturkrise. Die Gesellschaft wird dann offener und mit mehr Nachdruck nach der Erforschung ihrer behausten Lebensbedingungen fragen. (2)

ANMERKUNGEN

(1) Die Abstracts zu den Vorträgen sind publiziert in 'Traditional Dwellings and Settlements Review', Fall 1996.

(2) Konkreter zwei Vorschläge: 1. Als längerfristiges Ziel könnte die IASTE Vereinigung den Aufbau einer dezidiert wissenschaftlichen Architekturforschung veranschlagen. Es wäre zu eruieren, was man von einem Wissen dieser Art erwarten kann, wie es aufzubauen und zu fördern wäre. 2. Die einmal eingschlagene Linie impliziert zunehmende Diskussion wissenschaftlicher Methoden und wie sie in der 'postmythischen' Zeit der Architektur in der Architekturforschung anzuwenden seien.


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