Mit diesem Ansatz fällt einem bei der Benutzung naturwissenschaftlicher Fachwörterbücher bald einmal auf, wie viele Wörter westlich-wissenschaftlicher Herkunft direkt oder indirekt ein Spalten oder Teilen meinen. Das gilt nicht nur für die erwähnten Grundbegriffe wissenschaftlichen Denkens wie Urteil, Analyse, Klassifikation, usw., vor allem auch fachspezifische Begriffe wie Element und Analyse in der Chemie, Anatomie in der Medizin, Atom und Kernspaltung in der Physik, Individuum in den Sozialwissenschaften usw. Alle diese Wörter bedeuten ein Teilen, Schneiden, Auflösen oder eine Besonderung davon. Auch die neuerliche 'Genmanipulation' wird man in diesem Sinne verstehen, werden doch in der Gentechnologie einzelne Glieder eines vitalen Ganzen herausgelöst, ersetzt oder vertauscht.
Dies sind nur einige wenige Beispiele, die Spitze eines riesigen Eisbergs. Wissenschaft und Technik spalten die Welt in der wir leben. Die Teil-, Schneid- und Auflösungswörter sind das Programm dazu.
Im Hinblick auf unser westliches Denken in Spaltbegriffen sind die chinesischen Begriffe des Erkennens somit herkömmlich immer relativ oder synthetisch gewesen. Sie waren auf die Beziehungen und auf das Fügen von Gegensätzen aus, nicht auf ihre Isolation. Zwischen westlichem und östlichem Erkennen besteht folglich ein fundamentaler Unterschied, den man aber wissenschaftlich darstellen kann. Das ist durchaus keine Mystik, wie man vielfach glaubt, sondern recht einleuchtend, durchaus real. Man muss bloss das grundverschiedene Motiv erkennen, das die beiden Weltsichten trennt. Westliches Denken will einen präzisen Sachverhalt im Ur-Teil festlegen. Ihm geht es um eine eigenmächtig postulierte Wahrheit, die sich aus der Entscheidung zwischen Gegensätzen ergibt. Westliches Denken hat, so gesehen, eine panische Angst vor dem Widerspruch, den es bei jedem vernünftigen Gedanken aussperrt.
Der Vergleich der verschiedenen Erkenntnisweisen fusst auf grundlegen-den Bausteinen menschlicher Weltbeziehung, den sogenannten Kategorien. Aristoteles hat diese in seiner 'Kategorienlehre' als fundamentale Elemente des Bewusstseins herausgearbeitet. Vereinfacht gesagt: in räumlicher, zeitlicher, qualitativer und quantitativer Beziehung drücken diese Grundelemente immer direkte Erfahrungen aus: unten/oben, nah/fern, einst/jetzt, hell/dunkel, begrenzt/unbegrenzt, eins/viel, usw. Beiden Kulturen - Ost wie West - ist gemeinsam, dass diese allgemeinsten Begriffe der Weltbeziehung paarweise gekoppelt auftreten. In beiden Kulturen ist es grundsätzlich unmöglich, unten ohne oben, hell ohne dunkel usw. zu denken. Selbst für das abstrakteste Instrument der Naturwissenschaften gilt das heute noch. Das xy-Achsenkreuz, das jeder - etwa von den Fieberkurven her - kennt, ist im Nullpunkt mit einer unendlich kleinen Schwelle gedacht, dem Umschlagspunkt zwischen positiven und negativen Werten in beiden Richtungen.
Wie gesagt, beim analytischen System kommt es darauf an, sich zwischen den Gegensätzen - im Sinne des logischen Gesetzes vom Nicht-Widerspruch - für den einen oder den andern Partner eines Gegensatzpaares zu entscheiden. Analytisches Denken braucht das Urteil zur Gewissheit, dass etwas so und nicht anders ist. Etwas kann in diesem Denken unmöglich zugleich A und B sein, etwa Eins und Vieles, mathematisch formuliert: 1 = 2. Damit wäre die Mathematik sehr schnell am Ende. Und doch ist genau diese Formel das Grundaxiom Asiens. Etwas, ein Einzelnes, ist nur existent insofern es zugleich an etwas verschiedenem teilhat. Eins ist bedingt durch das viel, viel ohne eins nicht möglich. Schwarz ist am wenigsten weiss und umgekehrt. Nie wohl wäre ein asiatischer Philosoph - analog etwa zu Platon - dazu gekommen, die reine Idee, die abstrakte Mathematik, zum geistigen Gerüst der Welt zu machen.
Harmonisches Denken hat sich nie darum gekümmert, was denn ein hoher oder ein tiefer Ton an sich sei. Ihm ging es um die Melodie. Nie hat man in Asien von sich aus Pflanzen oder gar den menschlichen Körper aufgeschnitten, um zu Organen und Zellen vorzustossen. Asiatisches Denken hat von aussen versucht, den Menschen ins Gleichgewicht zu bringen, durch Aesthetik, durch Soziales, durch Rituale. Nie auch hätte man in Asien den Menschen so unsinnig definiert: als Unteilbares. Konsequent auf diesen Begriff reduziert könnte er ja weder existieren - man denke an die Mutterbeziehung - noch könnte er sich fortpflanzen. Er hätte weder Sprache noch Kultur: er wäre wie ein 'Wolfskind'. Auch heute noch hat etwa die japanische Sprache Mühe mit dem westlichen Menschenbild. Die herkömmlichen Begriffe sind immer gekoppelt, meinen Menschen, die zueinander in bestimmten Beziehungen stehen, etwa Mann und Frau, Eltern und Kinder, Bruder und Schwester, älterer und jüngerer Bruder usw.
Es ist zu betonen: da ist nichts Mystisches an der Verschiedenheit von Ost und West, es sind verschieden gewachsene Beziehungen zur Welt. Um einfache Bilder zu geben: die analytische gleicht mehr dem Händler, der seine Ware genau untersucht, sie abschätzt, wägt, misst, mit dem entsprechenden Tauschobjekt vergleicht. Die harmonisierende Einstellung dagegen steht mehr in der Nähe des Künstlers, der mit hohen und tiefen Tönen Melodien schafft, mit geraden und krummen Linien, mit hellen und dunkeln Farben seine Welt in Farben und Formen bannt, der Gegensätze von Geist und Körperlichkeit in der Auseinandersetzung mit Stoff und Form zu vereinen sucht.
Einem chinesischen Bauern sind die - begrenzten - harmonischen Beziehungen seines Dorfes zentralstes Anliegen. Er hat nicht das leiseste Bedürfnis, auf den Mond geschossen zu werden! Sein Interesse richtet sich auf einen human vollwertigen sozialen Organismus, das Dorf. Modern gesagt, seine Sicht ist etwa die eines kulturbewussten Oekologen, der allerdings ohne Schrift und Lehrbücher auskommt (2).Und: die grosse, weite Welt liegt ihm völlig fern. Das ist insofern verständlich, denn in einem harmonischen System sind kulturelle Unterschiede nicht wesentlich: alles ist der Grundstruktur nach ein-heitlich.
Der Bauer aus dem chinesischen Dorf braucht keinen Tourismus. Dagegen schafft das Teilen Unterschiede. Man sehe sich unter diesem Gesichtspunkt etwa die europäische Entdecker- und Kolonialgeschichte an. Es gibt kein besseres Archiv für den zentrifugalen Geist der europäischen Zivilisation.
In unserem Zusammenhang wesentlich ist jedoch, wie man die verschiedenen Weltsichten von Ost und West von ihren Vergangenheiten her ins Verhältnis bringt. Man kann sie historisch, naturphilosophisch oder kultur-anthropologisch vergleichen. Die historische Betrachtung macht es sich billig. Man leitet die europäische Logik von Aristoteles ab, stellt diese als seine Erfindung dar. Aristoteles, das Genie, der Vater der Wissenschaft, usw. Dadurch werden doch aber indirekt bloss die logischen Grundlagen der Wissenschaft legitimiert.
Ja, haben etwa die Chinesen in über 4000 Jahren kein wertvolles Denken hervorgebracht? Es ist dies eine masslose, eurozentrische Selbstüberschätzung, die sich aus einem kurzsichtigen Historismus nährt, denn Aristoteles ist nur oberflächlich gesehen ein Anfang. Er steht mitten in einem viel älteren Prozess. Dieser Aufweis von Kontinuität in der Entwicklung europäischen Denkens ist von entscheidender Bedeutung, denn er vermag dieses grundlegend zu relativieren.
Man muss - gerade heute - endlich den Mut haben zu zeigen, auf welch fragwürdigen Füssen die europäische Wissenschaft steht: Historismen von A bis Z! Das gilt nicht nur für die Philosophie, genauso auch für die Religionswissenschaft, für die Kunstwissenschaft, für die Sozialwissenschaften usw. Die retardierten Bindungen der Humanwissenschaften an die Historie haben buchstäblich katastrophale Folgen: die Naturwissenschaften können sich hemmungslos entwickeln, weil ihnen von den Humanwissenschaften keine - die historischen Kultur-Räume übergreifende - anthropologisch-systematisch begründete Theorie des Humanen entgegentritt.
Ein kurzer Exkurs. Es ist wohl kein Zufall, dass man in Europa gerade in den fortgeschrittensten Gebieten der Naturwissenschaft, dort nämlich, wo man am Rande des Gewohnten ins Niemandsland der Materie hineinsieht, den Nutzen der europäischen Logik immerhin seit gut 50 Jahren in Frage stellt. Es ist die Rede von Bohr, Oppenheimer, Heisenberg usw., den bekannten Namen der Atomphysik. Gegenüber den Philosophen haben die Physiker einen Vorteil, insofern sie die Geschichte des europäischen Denkens darstellen. Sie sind der Naturphilosophie verpflichtet. Der Historiker der Philosophie fängt in der Regel mit der attischen Philosophie an, um westliches Denken zu begründen. Was davor liegt ist Mythos, prä-logisches Denken. Die Naturphilosphie hingegen bezieht auch die frühen Vorsokratiker mit ein, vermag Kontinuität zu sehen, jedenfalls soweit man über Natur spekuliert.
Naturphilosophie reicht so ungebrochen zeitlich tiefer, hinunter bis zu Heraklit. Dort trifft man eigenartigerweise genau die Denkweise, die wir oben als harmonische beschrieben haben. Doch, die modernen Atomphysiker fragen nicht weiter. In ihrem Suchen um neue Denkformen genügt ihnen dieser Fund. Sie nehmen den Sachverhalt als Analogie zum Osten und schreiben die eigenartige Koinzidenz dem Zufall der Geschichte zu. Immerhin, ist es nicht eigenartig, dass gerade die Supermänner unserer fortschrittlichen Welt, die Atomphysiker, in der verstaubten Kiste altchinesischen Denkens wühlen, um dort praktikable Denkformen für ihre Randbedingungen einer progressiven Wirklichkeit zu finden?
Stellen wir uns vor, wir könnten - z.B. strukturgeschichtlich (4) im interdisziplinären Verein - rekonstruieren, wie der Mensch - ursprünglich einem Künstler ähnlich - über eine aesthetisch geprägte Moral im Zuge langer Entwicklungsphasen gelernt hätte, die Welt in immer differenzierteren Kategorien und immer differenzierteren Verhältnissen zur Umwelt allüberall harmonisierend zu erkennen und zu gestalten. Er hätte zusehends sein System harmonischer Metaphern ausgebaut. Setzen wir voraus, wir könnten - z.B. indem wir die Quellen zur materiellen Kultur des Menschen einmal ganz anders, nämlich nicht historisch, sondern systematisch ordneten - genau zeigen, wie dieses System dem Menschen zugewachsen wäre, wie er es nutzte und wie dadurch sein Bewusstsein immer mehr Welt gewann. Dann müsste das heissen, dass die analytische Denkweise nicht etwas grundsätzlich Neues gewesen wäre, sie wäre bloss eine Entwicklung, die eine frühere Schicht verdrängte. Und zwar so, dass sie den hohen und den tiefen Ton aus der Melodie riss und jeden gesondert untersuchte, seine Schwingungen bestimmte usw..
Wir können mit den heutigen Quellen diesen Prozess durchaus verfolgen, etwa im Alten Aegypten wo Leben sich in vergängliches Diesseits und ewiges Jenseits gliedert, wo das All sich 'aus dem was ist und dem was nicht ist' zusammensetzt. Altaegyptische Religion war noch aesthetisch, nicht absolut geistig. Sie fusste auf Synthesen von körperlichen und geistigen, von begrenzten und unbegrenzten Kategorien. Auch politisch bestand Aegypten aus 'beiden Ländern'. Ober- und Unterägypten bildeten eine Einheit. Das nur einige Beispiele (5)
Auf diesem Substrat muss man Heraklit als den letzten Harmoniker sehen. Parmenides hat ihn dann vehement bekämpft. Seine Ontologie wird zur Schicksalsstunde des europäischen Rationalismus. Mit einem Sprachkniff, der berühmten Tautologie 'das Sein kann unmöglich nicht sein' lancierte er eine Behauptung von Weltgeltung. Bis heute zehren vor allem 'Geistes'-wissenschaftler vom naiven Glauben an die "Identität der Denk- und Seinsordnung" (6) der Parmenides' Ontologie zugrundeliegt. Die Atomisten brachten dagegen das Unteilbare in Gang, vor dessen Spaltung wir uns heute fürchten. Im übrigen war das Feld der sogenannten Vorsokratiker - als hätten diese auf Sokrates gewartet! - von eben jenem noch an Kategorienpaare gebundenen Fragen bestimmt, das wir oben voraussetz-ten. Mit dem Unterschied, dass man Kategorien zunehmend analytisch braucht: 'ist die Welt begrenzt oder unbegrenzt?', 'ist sie Einheit oder Vielheit?' u.s.w.. Bei Heraklit hätte das selbstverständlich noch geheissen: die Welt ist begrenzt und unbegrenzt, Einheit und Vielheit. Vorsokratische Fragen dieser Art - sie gingen von den ionischen Küstenstädten Kleinasiens aus - bezogen ihre Anregung offensichtlich von vorderorientalisch-aegyptischen Ritualtraditionen. In ihnen war die Welt noch in polar-kategorial harmonischen Beziehungen geordnet.
Aus dieser Sicht erhielte die weitere Entwicklung des europäischen Denkens eine ungeheure Konsequenz. Die Analytik des Aristoteles wirkte sich vorerst aus in der Theologie, indem sie der Scholastik zur Konstruktion eines absoluten Geistes verhalf. Mit der Aufklärung verliert diese Konstruktion zusehends an Tragkraft. Das Pendel der Analytik schlägt zur absolut gefassten Materie und zur reinen Empirie hin. Die nun 'desakralisierte' Materie lässt sich beliebig manipulieren, womit wir bei den modernen Phänomenen Industrie und Technik sind.
Die anthropologische Formulierung dieses Substrats impliziert nun andersrum auch die ernüchternde, aber zugleich entscheidende Einsicht, nämlich, dass aus diesem gewachsenen Gefüge von gekoppelten Kategorienpaaren gar nicht zu entkommen ist. Ob wir sie analytisch oder harmonisch ordnen, wir sind in dieser 'conditio humana', in diesem uns als Menschen zugewachsenen intelligiblen System gefangen. Jeder Erkennens-Versuch bleibt immer je und immerschon Projektion dieser menschlich zugewachsenen Ordnung auf eine an sich unbekannte Natur. Wir suchen im Weltenraum wie in der Mikrophysik dual nach Körpern im unendlich Leeren, Partikeln im freien Raum. Was wir zu erkennen meinen, das sind letztlich nur zufällige Koinzidentien zwischen der unbekannten Struktur der Natur und unserem gewachsenen menschlichen Ordnungssystem.
Das Leben, ein rund 600 Millionen alter Prozess, der auch uns Menschen hervorgebracht hat, steht am Abgrund. Die Verwüstungen von Hiroshima und Nagasaki, das von einer Handvoll Falken errichtete Potential der nuklearen Abschreckung, die Reaktorkatastrophe von Tchernobyl, die entstellten Kinder von Minamata und die hilflosen Thalidomidgeburten, die Chemiekatastrophen von Bhopal und Basel, das Waldsterben, die Verseuchung der Gewässer und des Meers, der Abbau der Ozonschicht in der Stratosphäre, der Einbruch der Drogen in unseren doch so geregelten Alltag, schliesslich sogar die Gen-Manipulation des Lebens selbst, all dies sind nicht isolierte Ereignisse.
Es sind nicht bloss lokal begrenzte 'Störungen des oekologischen Gleichgewichts'! Vielmehr sind es glühende Feuerzeichen einer zusammenhängenden Katastrophe, die unerbittlich auf uns zurollt. Es sind Menetekel wie jene, die einst dem stolzen König der Chaldäer sein und seines Reiches Ende anzeigten. Wie dort ist es wohl zu spät. Der Untergang ist unaufhaltbar im Gang. Jeder von uns betreibt ihn munter weiter. Es gibt kein Zurück mehr. Der Untergang des Lebens ist programmiert. Unser verblendeter Geist hat unsere natürlichen Sicherungen ausgebrannt. Wir rasen auf einer gigantischen Zeitbombe unaufhaltsam nieder ins Verderben.
Globaler Zusammenhang: wir spalten die Welt! Das Programm, nach dem alles läuft: die europäischen Historismen, die sog. Wissenschaft. Eines in diesem Szenario ist unumstösslich. Ob 5, 10, 20, 50 oder 100 Jahre: Es kann mit absoluter Sicherheit nicht so weitergehen.
1 Stuttgart 1958
2 Seine 'Lehre' entnimmt er der kultischen, künstlerischen und sozialen, lokalen Tradition. Es ist hier wichtig zu wissen, dass die Christianisierung die europäischen Dörfer durch Abschaffung der sog. 'primitiven' Kulte geistig und künstlerisch entleerte. Asiatische Agrardörfer sind oft noch in sich geschlossene, vollwertige 'Kulturen'.
3 Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, 1948
4 s. Wernhardt, in J.Stagl: Grundfragen der Ethnologie, 1981
5 vgl. hiezu Hermann Kees: der Götterglaube im Alten Aegypten, 1980. Ähnliches lässt sich auch im Vorderen Orient mit frühesten Quellen der Sumerer zeigen.
6 W. Röd: Die Philosophie der Antike 1; Von Thales bis Demokrit, München 1976,(:116)