GÖTTLICHE GRAS-KUNST

Eine happige Menge von Ursprungsfragen zu Kunst und Kultur


Buchbesprechung (Kunst)

Nold Egenter

BAUFORM ALS ZEICHEN UND SYMBOL Nichtdomestikales Bauen im japanischen Volkskult. Eine bauethnologische Untersuchung, dokumentiert an 100 Dörfern Zentraljapans. ETH-Zürich


Graskunst in Japan? Das Buch rüttelt vorerst massiv an den Lack- und Seiden-Historismen der etablierten japanischen Kunst- und Kulturtheorie. Das 'alles Hohe kommt von China' fällt. Akribisch wird blossgelegt: das Essentielle der japanischen Kunst und Kultur hatte seine Wurzeln in der agrardörflichen Vorgeschichte. Kunst kommt von unten. Ein neues Zweischichtenmodell. Gewaltig!

Aber, Nold Egenter, der Autor, legt nicht bloss ein faszinierendes Buch über 'primitive' japanische Kunst vor. Schon das dürfte ja viele bereits schockieren! Das Buch will mehr. Bloss dank günstigen Bedingungen siedelt es sich in Japan an (Randlage zum Kontinent, keine Kolonialisierung, kaum Christentum). Das Wichtigste: in Japan lassen sich heute noch ('Galapagos der Kultur'!) völlig überraschend Dinge photographieren, die, etwa im Vorderen Orient und Aegypten, vor 5000 Jahren zwar zum Alltag gehörten, dort aber längst verschwunden sind. Zeitmaschine! Auf Ton geritzt, graben die Archäologen Darstellungen solcher Graskunst aus dem Boden und rätseln darüber, was sie bedeuteten. Damit liegt Egenters Strategie bereits auf dem Tisch: Ursprungsfragen zu Kunst und Kultur!

Ursprungsfragen? Wen interessierten sie nicht? Verkappt als 'roots', als 'primitive' Zustände, als 'Anfänge', 'Gründungen' und 'Begründungen', als 'Schaffungen', 'Erschaffungen', 'Kreationen' und 'Schöpfungen' stehen sie an der Basis vieler künstlerischer, philosophischer, religiöser und politischer Ueberzeugungen. Eine ganze Palette davon wirft uns Egenters Buch über 'Graskunst in Japan' in die Diskussion. Ganz konkret, das Gras-Kunst-Buch stellt unsere Vorgeschichte in Frage. War die Hand das erste Werkzeug, nicht der Stein? Waren Gräser und Zweige das erste Kunstmaterial, nota bene: mit einem ungeheuren Formpotential? War das 'Abbinden' von Fasern Urtechnik skulpturalen 'Designs'? Ist die eigentliche Kunst- (und Kulturgeschichte) verfault? Das Material der Urkunst war nicht dauerhaft? Gab es in der Ur-Kulturlandschaft viel Wichtigeres als das Werkzeug des 'tool-makers', gab es eine mit leicht manipulierbarem Pflanzenmaterialien arbeitende, 'fibro-konstruktive' Kunst, somit auch Kultur? Hat der Mensch schon früh seinen Lebensraum mit fasrigen Zeichen und Symbolen (Ur-Landart) geordnet und davon einiges gelernt? Wäre somit, was in der menschlichen Kulturentwicklung eigentlich zählte, verfault? Machen uns Archäologie und Vorgeschichte mit ihren Abfall-(statt Wert-voll-) Projektionen, mit ihren destruktiven Werkzeugprimitivismen weithin etwas vor? Wäre so auch das Schöne dem Menschen nicht vom Himmel gefallen, wie Platon meint, sondern mit uralter Graskunst zugewachsen?

War Kunst ursprünglich ohne den menschlichen 'Formwillen' entstanden? Der Mensch hätte 'das Schöne' aber entdeckt, geschätzt und erhalten, ja es geradezu geheiligt, weil es ihm Gestaltmodell für die Umwelt war? Haben Ur-Künstler die Bäume entdeckt, die Pflanzen und Tiere, Himmel und Erde? Die Ur-Imagination wäre umgekehrt verlaufen, nocht von der Welt zur Kunst, sondern von der Kunst zur Welt? War Kunst so das erste und umfassendste Erkenntnissystem des Menschen (das heute fortlebt, aber neben der Wissenschaft nur noch kümmerlich überlebt!)? War also - was viele vorher auch schon sagten - die Kunst einst der grosse Kultur-Lehrmeister des Menschen gewesen? Stand auch etwa das, was wir heute Religion nennen, ursprünglich der Kunst sehr nahe? Diese Fragen rechtfertigen sich aus fünf methodologischen Grundansätzen des Autors: 1) was die humanwissenschaftlichen 'Disziplinen' heute als Kunst, Philosophie, Religion, Soziales usw. getrennt behandeln, war ursprünglich in einem materiell-geistigen 'Kern' siedlungsgenetischer Prägung vereint! 2) Diese komplexen 'Kerne' waren als 'Urkunst' des Siedelns über die ganze Welt verbreitet. 3) Alle kulturellen Ideen gingen ursprünglich von solchen komplexen geistig-materiellen Kunst-Kernen aus: Kunst. 4) Der in 'Disziplinen' zerstückelte Apparat der sog. 'Geistes-' oder Humanwissenschaften vermag diesen komplexen 'Kern' und seinen funktionellen Sinn nicht abzubilden. 5) Die Geisteswissenschaften erschöpfen sich deshalb zu einem grossen Teil in aufgesplitterten historistischen (Rück-)Projektionen. Vor allem die frühe Geschichte der Menschheit erscheint gravierend verzerrt.

Das was Egenter so im fernen 'Galapagos der Kultur' (Japan) als global reproduzierbares Kunstobjekt, als komplexen 'Kunst-Kern' unter die Lupe nimmt, gehörte herkömmlich in die Religion. Dort seit Jahrhunderten bekannt, wurde es als Objekt völlig missverstanden. Es geht um das, was die kirchlichen Missionare weltweit bei entferntesten 'Natur'-Völkern entdeckten. Sie nannten es, meist abschätzig, 'Fetisch', 'Götzenfigur', 'Geisterhüttchen', 'Totem' usw.. Es war in ihrem euro-theologisch geschulten Denken mit dem neoplatonisch konstruierten 'absoluten Geist' der Scholastik (Hochreligion) nicht vereinbar. Das Unverständnis war auch nützlich. Es legitimierte den kultur-chirurgischen Eingriff, die 'primitive' Religion durch unsere 'Hohe Religion' zu ersetzen. Faktisch waren diese 'Fetische' traditionelle Dokumente lokaler Territorialverfassungen. Man hat somit - im Zuge der Bekehrung - den 'Natur'-Völkern ihr eigenes 'Staatsarchiv' wegtheoretisiert. Kein Wunder, totale Entwurzelung! Historisch oder archäologisch nannte man analoge Funde etwa im vorderen Orient 'Götter- oder Königssymbole' (Ischtar, Djed), oder 'Lebensbäume' (z.B. assyrische), wobei sich die Interpretation im Rahmen von historischen Kultdarstellungen und Mythen ergab. Auch das Alte Testament kennt solche 'primitive' Phänomene, etwa wenn es in der ersten Offenbarungsszene vom 'ewig brennenden Dornbusch' als Heiligtum spricht. Auch die europäische Volkskunde beschreibt ähnliche, oft reich mit Pflanzengebinden geschmückte fibrokonstruktive Zeichen und Symbole, etwa jene, die um das Phänomen 'Maibaum' u. dgl. kreisen. Auch hier Religion: sie werden meist im Rahmen sog. Fruchtbarkeitskulte gedeutet.

Das wissenschaftlich revolutionäre Paradigma an Egenters Buch besteht darin, dass er dieses global verbreitete Phänomen dem scholastisch idealisierten, historistisch deduktiven Wertsystem der Religion entreisst, und es - exakt wissenschaftlich und objektiv - als 'Kern' lokal tradierter Weltsichten (Ontologien) mit den Methoden der Kunst- oder Architekturforschung behandelt. Implosion des Weltbildes! Oeko-Kulturtheorie, vielleicht! Faszinierend was Egenter mit masstäblichen Plänen, Zeichnungen, Schnitten, Ansichten und einer Unzahl von Photos hier akribisch dokumentiert. Faszinierend auch die zahlreichen Formvergleiche, die auf Entwicklungszusammenhänge hinweisen. Das Buch darf ohne Uebertreibung in der Kunsttheorie als erste derart umfassende, exakte Untersuchung gelten. Wer überdies genug hat vom Verwirrspiel des üblichen Kunstgeschwafels, wird es auch von seiner klaren Sprache her als etwas Neues schätzen: ein Buch, das in exakten Begriffen die 'Geburtsstunde des Schönen' beschreibt! Es läutet eine neue humane Aesthetik ein! 'Wer diese neue Aesthetik versteht,' sagt Egenter - er nennt die entsprechende Kunst 'Anthrop-Art', 'wird ungemein schöpferisch, weil er nun Kunst als zur Wissenschaft antithetisches, aber voll gleichwertiges Erkenntnissystem begreift.' Nach Egenter gibt es zwei Systeme des Wissens nebeneinander. Das schneidende urteillende Wissen, die 'analytische' Wissenschaft und das andere fügende, harmonisierende Wissen, rein quantitativ mindestens so wichtig wie die Wissenschaft. 'Letzteres sagt schwarz UND weiss, licht UND dunkel, oben UND unten, Mutter UND Kind. Die Wissenschaft ersetzt das UND durch ODER.' Wissenschaft (als kategorial duale) hat sich durch diese Umpolung aus der elementaren Aesthetik (der kategorial polaren) entwickelt.

Egenters Buch wird zweifellos Einiges beitragen zu einem zunehmend anthropologisch begründeten Kunstverständnis. Das heisst im Einzelnen: zu einer Ent-theologisierung der Kunstwissenschaft ('postmedievaler Mythos des profanen Schöpfergottes'), zu einer De-elitarisierung der Kunstziele und zu einer Verbreiterung der Basis des Kunstschaffens auch, aus dem erkenntnisttheoretischen Erkennen seiner Balancefunktion zur Wissenschaft. Im Zusammenhang gelesem mit Egenters 'Architektur- (und Kunst) Anthropologie' (Band 1), ist dieses Buch so umfassend und fundamental wie 'Zen' im Buddhismus: eine Erleuchtung.


Siehe auch: Bibliographische Daten / Bestellung (BFZS)
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